Hofarchiv: Vertelsel

Freuden beim Kuhhüten

Auszug aus der Sammlung "Im Jugendparadies"

Für groß und klein war es ein besonderes Ereignis, wenn das Kuhhüten auf dem Großen Bruche einsetzte. Die Kühe mußten in jedem Jahr von neuem an den Weg, der eine Strecke der Landstraße folgte, gewöhnt werden. Das erste Mal wurden die Kühe hinübergeführt. Ein Erwachsener hielt vier bis fünf Seile in der Hand. Es ging über den Sommerweg (Sommerweg war ein nicht befestigter Wegstreifen neben der Straße). Die Kinder konnten nur Treiber sein.

Das zweite Mal wurden die Kühe frei in die Weide getrieben. Waren den Kühen im Stall die Stricke vom Gehörn genommen, gab es ein Hallo auf der Diele und auf dem Hofe. Auf dem Wege ging ein Mann mit einer Buschgerte in der Hand als Führer voran und steuerte, damit sich nicht eine Kuh vom Trupp löste. Flinke Läufer an den Straßenseiten mußten das seitliche Abirren verhindern, vor allem dafür sorgen, daß keine Kuh in das angrenzende Klee- oder Getreidefeld entwischte.

Hinter den Kühen waren die Treiber, alle mit Gerten bewaffnet. Die Jugend war am Küheauszug stark beteiligt. Wenn die Kühe allmählich eingeübt waren, konnte ein Junge das Treiben und Hüten besorgen. Der Ruf: "Koh ruth" rief auch die beiden Kühe des benachbarten Kötters aus dem Stall zum Mittrotten.

Das waren selige Stunden, erfüllt mit vielerlei Erlebnissen. Man mußte nur verhindern, daß die eigenen Kühe in dem damals noch nicht abgezäunten Gelände auf fremdes Gebiet hinübergrasten. War eine Kuh über den Graben gesprungen, hieß es schnell handeln, um sie wieder zurückzuholen. Wenn die Ausreißerin mit erhobenem Sehwanze davonrannte, galt es, das Vieh durch geschicktes Überholen im Bogen zu überlisten und es dann unter Hallo schnell zurückzutreiben, wobei es auch einige Rutenhiebe setzte, damit dem Tier das Ungesetzliche des Grenzübertritts zum Bewußtsein kam.

In der dabei reichlich zur Verfügung stehenden Freizeit konnte man mit anderen Hütejungen mancherlei vergnügliche Gemeinsamkeiten betreiben. Wo der Bruch nicht zu Wiesen umgearbeitet war, bestand noch Unland mit moorigen Wasserkölken, Heideerhebungen und Birken, Krüppelkiefern und Wacholderbüschen. Dort war Freiland, niemand kümmerte sich darum. Wir Jungen suchten hier nach den Nestern von Vögeln, von Kiebitzen und Bekassinen im Moorrasen, von Hänflingen in Wacholderbüschen. Wir zündeten Heide, Dürrgras oder Wacholderbüsche an, banden aus Binsen Körbchen, schnitten aus Weidenzweigen oder Brustwurzstangen Pfeifeninstrumente, badeten in Torflöchern, lagen bäuchlings auf der Bachbrücke, um mit Würmern an hakig umgebogenen Knopfnadeln an der Gertenangel Stichlinge zu fangen.

Wir lagen rückwärts auf dem trockenen Bruchdamm und schauten dahineilenden Wolken zu oder ziehenden Vögeln, sangen die in der Schule gelernten Lieder, johlten. lasen in Büchern, lernten unsere Schulaufgaben oder balgten nach Herzenslust. Man konnte auch noch einzelnen Torfgräbern zuschauen, wie sie knieend ihren Torf zu Viereckstücken bereiteten (bereen) und diese zum Trocknen aufhäuften.

An Beschäftigung fehlte es nicht. Es wurden auch wohl Blumensträußchen von Schlüsselblumen, Blütenweiderich oder Kuckuckslichtnelken, auch von den noch häufigen Knabenkräutern oder Kriechweiden für die Mutter gesammelt, die gern einen Blumenstrauß auf der Kommode hatte. Wir freuten uns, wenn wir einen Hasen auftreiben oder eine sich flügellahm stellende Birkhenne mit ihren Jungvögeln ausmachen konnten.

So fehlte es nicht an Abwechslungen, die Zeit verstrich wie im Fluge. Wenn die Sonne eine bestimmte Höhe erreicht hatte, war Hüteende. Lange lauschten wir, ob nicht von der Landstraße her durch den benachbarten Kiefernwald hin durch das hohle, wohlbekannte Räderrasseln der Post kutsche hörbar wurde. Manchmal verriet uns auch da Hornsignal des Postwagenführers auf erhöhtem Sitze die Annäherung der Post. Wenn dann der gelbe Postwagenn in der Ferne dahinratterte, durften wir mit einem R uf "Kuh in Ruh" die Kühe zusammentreiben und heim führen. Mit prallem Euter wuschelten die Tiere willig~ heimwärts. Der Weg konnte gemeinsam ausgeführt wer den, jede Kuh kannte ihren Stall und bog ohne besondere Lenkung vom Weg seitwärts in die zuständige Behausung. Ein Lied und "Kuh in die Ruh" kündeten im Haus die Heimkehr an.

Dort wurden wir empfangen. Jede Kuh stellte sich im Stall an ihren Platz, und hurtig wurden die Strickschlaufen wieder um die Hörner gezogen. Es konnte auch zu einiger Verwirrung im Stall und auf der Diele kommen, wem Widerspenstige sich nicht schicken wollten und auf andere Plätze drängten.

Mit der Zeit ist alles anders geworden. Mit der Hüteherrlichkeit ist es vorbei. Als das Auto aufkam, gab es zuerst wohl ein Wortgeplänkel zwischen Autofahrern und Kuhtreibern, wenn die freigehenden schweren Kühe nicht geneigt waren, trotz allen Tutens dem Schnellfahrer zu weichen. Als einmal der ältere Bruder beschimpft wurde, entgegnete dieser, sie seien zuerst auf der Landstraße gewesen. Heute geht auf der stark befahrenen Landstraße kaum noch eine Kuh. Die Kühe sind bis in den Spätherbst hinein Tag und Nacht auf der Weide.
Die Weiden sind mit elektrischen Drähten umhegt. Zu den Melkzeiten prustet der Trecker mit dem Melkmotorwagen hinaus. Die Jugend kann sich höchstens noch an den Trecker hängen und darf beim Zusammentreiben der Kühe auf der Melkstelle helfen, sofern diese auf den Anruf, wie es Regel ist, nicht von selbst herankommen, um sich von der Milchlast befreien zu lassen. Die mechanisierte Technik beherrscht und bestimmt Lebloses und Lebendes. Um den Kiebitz und um den Stumpfwurz, wenn sie noch vorhanden sind, kümmert sich keiner mehr.