Hofarchiv: Vertelsel

Wir fuhren auf Visite (Vörwandten-Besök)

Auszug aus der Sammlung "Im Jugendparadies"

"Up Visite föhren" war für uns Kinder Höhepunkt im Jahresablauf. Sobald die Saaten bestellt waren, wurden die Verwandten besucht. Es war soweit, wenn der erste Kuckucksruf zu hören war. Wurde gefragt: "Wenne besöket Ji us", hieß es: "Wenn de Kuckuck röpp." Zuerst konnte Vater sich nur einen Kastenwagen leisten, weil die standesgemäße Kutsche beim Brand vernichtet worden war. Ein schweres Pferd hatte Mutter als "Brutpiard" mit in die Ehe gebracht. Später kam wieder ein Kutschenwagen auf den Hof. Allein die Vorbereitungen zur Ausfahrt waren vielseitig. Sie gehörten zum "Besuchsfest" und brachten allerlei Abwechslungen in den sonst einfachen Ablauf eines Lebensjahres. Vor dem Kastenwagen ging nur das "Brautpferd", die Kutsche fuhr zweispännig.

Die Kutsche mit den roten Plüschsitzen stand auf dem Hofe. Sie wurde gewaschen. Auf einem Tische daneben wurde das Pferdegeschirr gewichst, die Metallspangen mußten blitzblank geputzt sein. Wie das nach "zu Besuchfahren" roch! Standen dann die zuvor sauber gestriegelten Pferde vorm Wagen, war der Mitbringselkorb mit herrlich duftenden Müffkes, Kringeln, Maulschellen und Zwieback unter den Kutschbock geschoben, groß und klein in Decken verstaut, ging es munter hopp peitschenknallend hinaus auf den Fahrweg und dann auf die lange Landstraße zu den Verwandten im Nachbardorf. Das lustige Pferdegetrappel und Rädergerappel war eine köstliche Musik. Am Straßensperrbaum kam auf Peitschenruf der Wegewärter mit langer Pfeife - in Pantoffeln am Sonntag, in Holsken am Werktag - herangeschlurft und erhielt seine Pfennige als Straßengeld.

Auf dem Besuchshof stand alles zum Empfang bereit. Die Niendür war weit geöffnet; die Kutsche rollte auf die Diele. Als Willkommen galt die Aufforderung: "Kumet neiger". Nach dem Schnäpschen für die Großen und einem Zuckerblöckchen für die Kleinen saß alsbald alles am Kaffeetisch. Torten gab es noch nicht. Zuckerkuchen kam nur bei großen Familienfestlichkeiten, wie Hochzeit oder Haushebung, auf den Tisch. Ob die Menschen heute, da sich die Tische unter den Tortenschüsseln biegen, glücklicher sind, darf bezweifelt werden. Jeder wurde satt und war hochbefriedigt. Uns mundeten auch die Müftkes, ein heute nicht mehr gefragtes Gebäck. Der Zwieback durfte eingestippt werden. Zum Kaffeetrunk und Gebäckverzehr wurde herzlich genötigt. An Schlagsahne dachte keiner. Ging es unter keinen Umständen mehr, weiteres zu sich zu nehmen, so drehte der Gast die Tasse um oder legte sie auf die Seite. Dann wurde nicht mehr genötigt.

Die Männer rauchten eine der herumgereichten Zigarren oder zogen das Pfeifchen aus der Tasche. Dem sparsamen Hausherrn verübelte es keiner, wenn er seine lange Pfeife hinter dem Schranke hervorholte. Ein gemütlicher Schwatz setzte ein.

Er drehte sich zunächst um die Geschicke der Verwandtschaft, um Gesundheit und Erlebnisse seit dem letzten Treffen, dann um gemeinsame Bekannte, um die besten Viehzuchtmethoden, um milchende Kühe und ferkelnde Schweine, um die erhofften Ernteaussichten, um das Wetter, vielleicht um ein Stückchen Tagespolitik. Die Kinder rannten währenddessen um das Haus, spielten Verstecken oder Kriegen.

Zum Besuchsprogramm gehörten Besichtigungen. Sie begannen mit einem Rundgang durch alle Stallungen, an den sich ein gemeinsames Feldbegehen anschloß. Vielleicht wurde auch beim gut bekannten Nachbarn reingeschaut, wo etwa eine neue Landwirtschaftsmaschine besichtigt wurde, die eben eingeführte Milchzentrifuge oder auch die noch wenig bekannte Mähmaschine oder ein Heuwender. Dann saßen alle, außer der rührig tätigen Hausfrau, die das Abendessen vorbereitete, am Feuerherd oder auch am Tisch in der besten Stube.

Vielleicht guckte auch ein Nachbar rein, und nun wurde manches Garn gesponnen, über Spinnen und Weben, über Spukerlebnisse und Vorgeschichten über die in Vergessenheit geratenen Altgebräuche oder auch über das Kriegsgeschehen 1870/ 71. Der Junge erfuhr dabei viel über seine Heimat, ihre Geschichte und alte Begebenheiten. Lebhaft erinnert er sich des ergrauten Nachbarn, der alle Volksbräuche kannte, der lange Gedichte und Sprüche, die sich zum Beispiel um Hausbau, Hochzeitseinladungen oder "Sünne Matten" rankten, herzusagen verstand.

Derweil hatte die Hausfrau das Abendessen hergerichtet. Zum rechten Besuchstage gehörte, von den Kleinen besonders ersehnt, Pfannkuchen mit dickem Reis, vielleicht auch Stippmilch. Nur auf Visite gab es Pfannkuchen mit Zucker überstreut. Das war ein leckeres Abendgericht, es bildete einen Höhepunkt des "Visitenschmauses".

Nach dem Mahle wurde bei beginnender Dämmerung sofort aufgebrochen. Der Weidenkorb wurde wieder unter den Sitz geschoben. Er war keineswegs leer. Die Tante hatte allerlei hineingelegt von ihrem Überfluß. Die Erinnerung an den Besuch sollte nachwirken. Die Wageninsassen schlugen die wärmenden Decken um sich. Die Kinder wurden sorgfältig eingepackt. Der Kutscher entzündete mit seinem Schwefelhölzchen die Wachskerzen in den beiden Wagenlampen rechts und links. Ein letzter Händedruck mit warmer Einladung zum Gegenbesuch, seitens des Gastgebers zum baldigen Wiederkommen, die Pferde zogen an. Im langsamen Gang fuhr die Kutsche über den damals oft recht holprigen Weg. Es bedurfte nicht der Lenkung, die Pferde kannten den Weg. Auf der Landstraße verfielen sie von selbst in einen Trab, denn Menschen und Pferde hatten es auf der Heimfahrt eilig.

Als die Autos aufkamen, wurde es auf der großen Straße ungemütlich. Es bedurfte umsichtiger Aufmerksamkeit. Die Mutter war besonders besorgt und ließ es nicht an gutgemeinten Worten fehlen. Trotz der Scheuklappen vor den Augen der Pferde scheuten diese leicht vor dunklen Gestalten am Straßenrand und vor den aufblitzenden Lichtern der Kraftwagen. An das Brausen vorbeisausender Autos konnten sich die Pferde nur schwer gewöhnen.


Auch neue Kläppchen in der Rückwand des Kutschwagens konnten die Straße rückwärts nicht überschaubarer machen.Der Anbruch einer neuen Zeit kündigte sich an, der Landmann verlor allmählich sein überkommenes erstes Anrecht auf die Landstraße.

Während der Fahrt wurde auch gesprochen von den Eindrücken des Nachmittags. Schließlich stimmte Mutter ein Liedchen an, so "Freut euch des Lebens", "Der Mai ist gekommen", "Nachtigall, Nachtigall", oder ein Kirchenlied wurde gesungen. Wenn dann die Kinder müde einschlummerten, wurde es im Wagen ganz still.

Die Hauseinhüter kannten die Zeit der Heimkehr, ein Peitschenknall meldete diese. Mit einer Handlaterne standen die Hüter bereits in der geöffneten Niendür. Der Wagen ratterte auf die Diele. Die Aussteigenden schüttelten die steif gewordenen Glieder. Alle waren zufrieden über die Heimkehr nach einem erlebnisreichen Tag. Ein letztes Überdenken nach dem Abendgebet. Es dauerte nicht lange und das Haus lag im tiefen Schlaf.