Hofarchiv: Vertelsel |
Wir fuhren auf Visite (Vörwandten-Besök) |
Auszug aus der Sammlung "Im Jugendparadies"
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"Up Visite föhren" war für uns Kinder Höhepunkt im Jahresablauf.
Sobald die Saaten bestellt waren, wurden die Verwandten besucht. Es war
soweit, wenn der erste Kuckucksruf zu hören war. Wurde gefragt: "Wenne
besöket Ji us", hieß es: "Wenn de Kuckuck röpp." Zuerst konnte Vater
sich nur einen Kastenwagen leisten, weil die standesgemäße Kutsche beim
Brand vernichtet worden war. Ein schweres Pferd hatte Mutter als
"Brutpiard" mit in die Ehe gebracht. Später kam wieder ein Kutschenwagen
auf den Hof. Allein die Vorbereitungen zur Ausfahrt waren vielseitig.
Sie gehörten zum "Besuchsfest" und brachten allerlei Abwechslungen in
den sonst einfachen Ablauf eines Lebensjahres. Vor dem Kastenwagen ging
nur das "Brautpferd", die Kutsche fuhr zweispännig.
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Auf dem Besuchshof stand alles zum Empfang bereit. Die Niendür war weit
geöffnet; die Kutsche rollte auf die Diele. Als Willkommen galt die
Aufforderung: "Kumet neiger". Nach dem Schnäpschen für die Großen und
einem Zuckerblöckchen für die Kleinen saß alsbald alles am Kaffeetisch.
Torten gab es noch nicht. Zuckerkuchen kam nur bei großen
Familienfestlichkeiten, wie Hochzeit oder Haushebung, auf den Tisch.
Ob die Menschen heute, da sich die Tische unter den Tortenschüsseln
biegen, glücklicher sind, darf bezweifelt werden. Jeder wurde satt und
war hochbefriedigt. Uns mundeten auch die Müftkes, ein heute nicht mehr
gefragtes Gebäck. Der Zwieback durfte eingestippt werden. Zum
Kaffeetrunk und Gebäckverzehr wurde herzlich genötigt. An Schlagsahne
dachte keiner. Ging es unter keinen Umständen mehr, weiteres zu sich
zu nehmen, so drehte der Gast die Tasse um oder legte sie auf die Seite.
Dann wurde nicht mehr genötigt. Die Männer rauchten eine der herumgereichten Zigarren oder zogen das Pfeifchen aus der Tasche. Dem sparsamen Hausherrn verübelte es keiner, wenn er seine lange Pfeife hinter dem Schranke hervorholte. Ein gemütlicher Schwatz setzte ein. |
Derweil hatte die Hausfrau das Abendessen hergerichtet. Zum rechten
Besuchstage gehörte, von den Kleinen besonders ersehnt, Pfannkuchen mit
dickem Reis, vielleicht auch Stippmilch. Nur auf Visite gab es Pfannkuchen
mit Zucker überstreut. Das war ein leckeres Abendgericht, es bildete einen
Höhepunkt des "Visitenschmauses". Nach dem Mahle wurde bei beginnender Dämmerung sofort aufgebrochen. Der Weidenkorb wurde wieder unter den Sitz geschoben. Er war keineswegs leer. Die Tante hatte allerlei hineingelegt von ihrem Überfluß. Die Erinnerung an den Besuch sollte nachwirken. Die Wageninsassen schlugen die wärmenden Decken um sich. Die Kinder wurden sorgfältig eingepackt. Der Kutscher entzündete mit seinem Schwefelhölzchen die Wachskerzen in den beiden Wagenlampen rechts und links. Ein letzter Händedruck mit warmer Einladung zum Gegenbesuch, seitens des Gastgebers zum baldigen Wiederkommen, die Pferde zogen an. Im langsamen Gang fuhr die Kutsche über den damals oft recht holprigen Weg. Es bedurfte nicht der Lenkung, die Pferde kannten den Weg. Auf der Landstraße verfielen sie von selbst in einen Trab, denn Menschen und Pferde hatten es auf der Heimfahrt eilig. Als die Autos aufkamen, wurde es auf der großen Straße ungemütlich. Es bedurfte umsichtiger Aufmerksamkeit. Die Mutter war besonders besorgt und ließ es nicht an gutgemeinten Worten fehlen. Trotz der Scheuklappen vor den Augen der Pferde scheuten diese leicht vor dunklen Gestalten am Straßenrand und vor den aufblitzenden Lichtern der Kraftwagen. An das Brausen vorbeisausender Autos konnten sich die Pferde nur schwer gewöhnen. |
Auch
neue Kläppchen in der Rückwand des Kutschwagens konnten die Straße rückwärts
nicht überschaubarer machen.Der Anbruch einer neuen Zeit kündigte sich an,
der Landmann verlor allmählich sein überkommenes erstes Anrecht auf die
Landstraße. Während der Fahrt wurde auch gesprochen von den Eindrücken des Nachmittags. Schließlich stimmte Mutter ein Liedchen an, so "Freut euch des Lebens", "Der Mai ist gekommen", "Nachtigall, Nachtigall", oder ein Kirchenlied wurde gesungen. Wenn dann die Kinder müde einschlummerten, wurde es im Wagen ganz still. Die Hauseinhüter kannten die Zeit der Heimkehr, ein Peitschenknall meldete diese. Mit einer Handlaterne standen die Hüter bereits in der geöffneten Niendür. Der Wagen ratterte auf die Diele. Die Aussteigenden schüttelten die steif gewordenen Glieder. Alle waren zufrieden über die Heimkehr nach einem erlebnisreichen Tag. Ein letztes Überdenken nach dem Abendgebet. Es dauerte nicht lange und das Haus lag im tiefen Schlaf. |